Samstag, 23. Juni 2012
#4
Mit meinem verhunzten Jahrgang in einer Regionalbahn, Bildungsreise in die nächste größere Stadt. 200 übermüdete Jugendliche, die Zukunft Deutschlands, kaugummikauend, restalkoholisiert, desillusioniert . Ein paar Jungs spielen Mau-Mau mit, die Karten sind hinten gelb und verziert mit Slogans der FDP. Ein Teil der Bahnstrecke liegt in einem Funkloch. Dreiminütiger Netzausfall. Großes Drama.
Wir laufen durch die Stadt, die Hose des blonden Hünen, der vor mir läuft, ist an einer Stelle am Oberschenkel geflickt. Ich bilde mir ein, dass er an dieser Stelle am Bein eine Narbe hat und weiß doch, dass das Quatsch ist.
Die Lehrer sagen ‚Sie‘ zu uns, und rufen trotzdem: „Kinder, bleibt zusammen!“.
Jemand fragt, wo die nächste Spielhalle ist.

Später die Erkenntnis, dass es manchen, auch nach Erreichen der lang ersehnten Volljährigkeit, noch immer nicht möglich ist, sich länger als eine Stunde am Stück zu konzentrieren. Als ob man mit vulgären Lauten noch irgendwen beeindrucken könnte.

16.30 Uhr, Rückfahrt zur Rushhour. Wir klauen den Pendlern die Sitzplätze. Es stinkt nach Schweiß und schlauer als am Morgen sind wir auch nicht. Der Mann neben mir liest eine Sportzeitschrift. Sami Khedira ist angeblich 150 Millionen wert.
Heimliche Freude über den Gnom in Calvin-Klein-Boxershorts, der trotz übersteigertem Selbstwertgefühl kaum an die Haltestangen an der Decke der Bahn heranreicht. Seine vollen Lippen schaffen es in ruhendem Zustand fast eine Sinnlichkeit vorzugeben, die über den Müll hinwegtäuscht, der sonst aus diesem Mund fließt. Aber nur fast. Wer mich täuschen will, muss andere Geschütze auffahren.
Ein paar Plätze weiter sitzen die, für die ich namenloser Pöbel bin. Die Ellbogen auf den Knien, die Köpfe in den Händen, die Musik in den Ohren. Zwar Hemdenträger, aber nicht Sympathieträger. Intelligent, aber hinterlistig. In den Augen der meisten gutaussehend. Mindestens 12 Punkte in allen Fächern, trotz allabendlicher Saufgelage. Es tut weh, daran zu denken, dass sie es sein werden, die in ein paar Jahren mein Geld verwalten.
Der als skrupellos geltende Schülersprecher mit großen Ambitionen - sogar seine Freunde sagen, dass sie ihn nicht gewählt hätten - schaut mit leeren Augen gegen die Wände des Zugklos.
Ein Mädchen ärgert sich über ihren Freund, aber irgendwie sprechen plötzlich alle über Pädophilie, wahrscheinlich, weil es doch keinen interessiert, ob sie sich nun trennen, oder nicht.
Der Boden ist abgetreten. Die Luft ist verbraucht. Die Frage ist, ob wir es auch sind. Wahrscheinlich ja, schon längst.
Ich tu so, als wär ich trotzdem zufrieden.
Noch sieben Minuten bis zuhause.



#3
Wenn ich eines verabscheue, sind es Menschen, die ihre Gefühle nicht mehr mit Worten oder dem Weglassen von Worten ausdrücken können, sondern nur noch mit Emoticons.