#36
Wenn Tony nicht kann, ruft Stoffel mich an.
Manchmal bin ich dann etwas beleidigt, offensichtlich nur zweite Wahl zu sein. Im Grunde ist es wahrscheinlich nur Neid. Nicht Neid auf Tony wegen Stoffel, um Himmels Willen. Nur Neid auf das, was die beiden aneinander, miteinander haben. Neid auf die spielerische Vertrautheit zwischen ihnen, die kleinen Wangenküsse zwischendurch, die ewigen Streitereien, die erst tränenreich und gespickt mit Trennungsdrohungen sind, aber immer ein Happy End haben.
Ich bin dann auch nie lange beleidigt.
Heute auch nicht. Stoffel war also hier, wir liegen ein bisschen herum, langweilen uns ein bisschen, hören ein bisschen Hipstermusik, reden ein bisschen.
Stoffel trinkt jetzt keinen Alkohol mehr, sagt er. Ich halte das erst für einen schlechten Scherz. Stoffel und Abstinenz, das ist genauso wie Stoffel und Vernunft, das geht irgendwie nicht zusammen.

Aber sowieso ist ja alles etwas seltsam in letzter Zeit. Wenn man "jetzt" mit "letztes Jahr um diese Zeit" vergleicht, dann sind da einige Sachen relativ verquer. Und am liebsten möchte ich alles wieder aufräumen. Die Puppen nochmal dahin stellen, wo sie vor einem Jahr standen und das Spiel von vorne spielen. Der letzte Sommer in Dauerschleife, das wär's doch. Repeat, repeat.

Wir driften alle auseinander, das hat der Winter aus uns gemacht.
Flora, Stoffel, Tony, der Junge und ich, ist das jetzt ein "Es war einmal..."?
Die Bräune ist von der Haut verschwunden und all der frische Wind ist weg, irgendwer hat die Kerzen ausgepustet. Das hat Stoffel auch schon gemerkt, aber bevor wir drüber reden, wechseln wir besser das Thema.
Das Leben ist nunmal kein Lied, das man immer wieder hören kann.

Als Stoffel geht, fühle ich mich trotzdem besser. Auch wenn wirklich alles seltsam ist und mich schreiend und wirr umkreist, Stoffel ist geblieben wie er auch letztes Jahr schon war. Ehrlich, lieb, und kein bisschen erwachsen. Das beruhigt mich. Manche Dinge gehen, manche Dinge bleiben.
Als ich in wegradeln sehe, ist da Hoffnung. Nicht so viel wie letztes Jahr um diese Zeit, aber doch ein bisschen.
"Es war einmal..." ist auch immer der Anfang einer Geschichte.