Freitag, 5. Oktober 2012
#17
Mit Stoffel, Zorro und Simba zur Schule. Es regnet schon als wir losfahren.
Stoffel in ungetrübt guter Laune, trotz Matheklausur und durchnässter Jeans. Ich eher zurückhaltend.
Vor der Schule ein Andrang, als gäb’s was um sonst. Auf 500 Metern stauen sich die Familienkutschen. Das liegt nicht am Regen. Das ist immer so. All die Mamis, die ihre Töchter und Söhne zur Schule bringen. All die Oberstufenschüler, die zu cool für den Bus sind. All die pickligen 15-Jährigen, die ihre knatternden Mopeds vorführen müssen. Das ist immer so.
Mir kommt ein Fußgänger entgegen, ich bremse stark, mein Hinterreifen rutscht weg. Beinahe die Zähne an Stoffels Gepäckträger ausgeschlagen, aber sei’s drum.
Am Fahrradständer aus den nassen Sachen pellen. In der Eingangshalle ist es dunkel und es riecht muffig. Ich schiebe zwei wandelnde 4YOU-Tornister aus dem Weg. Einmal das sein, wovor man sich früher am meisten gefürchtet hat.
Ein paar, im Kontrast zu meinen durchnässten Haaren, allzu trocken wirkende Worte mit der Milchreisqueen und der Hierbleiberin gewechselt. Dann im Strom der tausend Seelen nach oben.
Ich sitze fünf Stunden am Fenster und höre dem Regen und dem Husten meiner Mitschüler zu, während eine Hälfte von mir widerwillig versucht, die andere Hälfte zu überzeugen, dass all das einen Sinn hat. Meine Hand schreibt von ganz alleine. Witzig, denke ich, dass mir das mal schwer gefallen ist.
Die gleichen schlechten Witze jeden Donnerstag in der 6. Stunde. Dann mal wieder einer, dessen Entscheidung Lehrer zu werden, eine Fehlentscheidung war. Didaktische Feuerwerke für gleichgültige Schüler, die nichts lieber haben als den zum SMS-Schreiben am besten geeigneten Frontalunterricht.
Als es vorbei ist, gehe ich die Treppe wieder hinunter. Sie drängeln und schubsen, als gäbe es in der Mensa nur Essen für die, die eine neue Bestzeit auf der Treppe erreichen.
Als ich in der sechsten Klasse war, haben sie in der Pause die Türen von innen zu gesperrt. Draußen-Pause hieß das, und keiner durfte rein. Also sammelten sich alle draußen in direkter Nähe zur Tür.
Wenn die Pause vorbei war, standen 200 Unterstufenschüler vor dem Eingang und warteten, bis die Tür aufgeschlossen wurde. Ist man drinnen, will man raus, ist man draußen will man rein. Der Mensch ist nie zufrieden mit dem, was er hat. Irgendwann erbarmte sich stets ein bemitleidenswerter Referendar mit fettigen Haaren und öffnete die Schleusen. Dann wurde der Pulk zum Individuum. Er drängte mit immenser Kraft ins Innere des Gebäudes. Er war stark, und er war rücksichtslos. Ein Monster, das alles fraß, was zu schwach war, um sich durchzusetzen. Einmal wurde ein Junge aus meiner Parallelklasse übertrampelt. Er hatte eine Rippe gebrochen. Danach hat man die Türen wieder offen gelassen. Inzwischen werden sie wieder zugeschlossen. Jeder der während der großen Pause in der Eingangshalle herumläuft, wird von einem 200 Kilo schweren, furchteinflößenden Lehrerkoloss zusammengefaltet und hochkant hinausgeschmissen. Sie würden dich noch auf den Schulhof schicken, wenn dir akut ein Bein fehlen würde, da kannst du sicher sein.
Ich lasse mich auf dem immer selben Weg zum dreckigen Aufenthaltsraum am Ende des Flures treiben, vorbei an Möchtegerns und Facebookjunkies.
An einem Schokoriegel knabbern, mal ein paar Schritte gehen, wenn es in der Gegenwart der allzu redseligen Freunde nicht mehr auszuhalten ist. Es stinkt nach Döner, auf dem Flur essen sie bergeweise trockenes 25-Cent-Baguette mit Frischkäse. Zu meiner rechten die Grazien mit zu viel Rosa auf den Wangen.
Fünf Minuten vor dem Klingeln: Klobesuch. Licht funktioniert auf keinem der drei Mädchenklos, die dunkle Jahreszeit lädt wieder ein zum munteren und blinden Zielpinkeln. Der Gestank ist im Erdgeschoss am Schlimmsten. Nur am Tag der offenen Tür kann man es wagen, diesen Abort zu betreten. Über das was in den Abflüssen vergammelt ranken sich viele Mythen. Man sagt sich, die Abwässer werden abgefangen und in die Seifenspender gefüllt. Als ich neu auf die Schule kam, hat unsere Klassenlehrerin uns erklärt, wir sollten nicht aus den Wasserhähnen trinken. Ich starre die blutverschmierte Klowand an und muss an die hellen, schnurgeraden Narben auf den Oberarmen eines Mitschülers denken.
Wendy, die Hierbleiberin, alle weg als ich die Eingangshalle betrete.
Erneut kämpfe ich mich die Treppe hoch, mal wieder zu spät, was soll’s.
In den Fluren könnte man Hundertmetersprints trainieren.
Ein Erinnerungsblitz, ein trauriger. Der Cowboy hat geweint, weil er vielleicht nie wieder laufen kann. Das kann ich mir nicht vorstellen, dass der Cowboy weint.
Vor den Räumen prügelt sich die Unterstufe, die Mittelstufe probiert auf dem Treppenabsatz ihre Zungenfertigkeit aus und ich neige den Kopf gen Himmel, wie ich das immer tue, wenn ich meine, es nicht mehr aushalten zu können.
Mein Blick wird gestoppt von der löchrigen, aschgrauen Decke. Hier und da, in beruhigender Regelmäßigkeit ein gelb-brauner Wasserfleck, oder ein Stück herausgebrochene Deckenverkleidung. Von wegen Himmel, dahinter nichts als leere Schwärze.
Einmal hatten wir wochenlang einen Eimer in der Mitte unseres Sozialkunderaumes stehen, weil es aus der Decke tropfte, auch wenn es nicht regnete.
Hier herrschen der Schimmel und der Muff der 30 Jahre alten, ehemals bunten, Vorhänge. In den Wänden lebt es, es lebt, man hört dieses Leben kratzen und rufen, und es sind ausnahmsweise mal nicht die Stimmen in meinem Kopf, nein, es schreit aus den Wänden. Jeder weiß es, da wohnt etwas Monströses hinter der Tapete, und es wird sich befreien, irgendwann wird es sich befreien.
Wer weiß, vielleicht werde ich eines Tages mal in einem einsamen Moment von einer, aus der Decke fallenden, toten Ratte ungewöhnlicher Riesenhaftigkeit erschlagen. Dann läge ich eine Weile bleich im zweiten Stock herum, Neuntklässler würden mir das Gesicht mit Genitalien bemalen, und Stunden oder Tage später würden ein oder zwei Mitglieder der Sanitäts-AG mich herausschaffen, stolz, mal einen echten Toten gesehen zu haben.
Tot wie ich wäre, wäre ich stumm. Stumm, wie ich es immer war. Man würde mir die Ratte mit ins Grab legen, ein, zwei Vaterunser beten und kopfschüttelnd von dannen ziehen.
Ich hör sie schon flüstern: „Sie sagen, die Schule hat sie umgebracht, also wirklich, das ist doch Quatsch.“
Und ich würde fortan lächelnd in meinem Grab liegen und denken, da hab ich ja noch einmal Glück gehabt.
Aber am Ende des Tages dann doch nur wieder aus der Tür gehen, wie ein ganz normaler Mensch, leider lebend. Den Kopf in den Nacken legen und nur Wolken sehen, aschgrau, wie drinnen.
Ewigkeiten auf Stoffel warten. Nachhause fahren. Für immer schlafen.
Wecker.



Samstag, 15. September 2012
#16
Heute mit meiner Autobiografie angefangen. Erinnerungen an Dinge, die gerade erst passieren. Einfach, weil ich weiß, dass ich das, was des Aufschreibens ansatzweise wert ist, vergessen haben werde, wenn ich alt genug bin, um meine Memoiren zu schreiben.
Beim Schreiben gemerkt, dass ich zu verklärt bin für mein Alter. Ich muss nicht älter werden, ich hab den Abstand schon. Zu meiner Jugend, meinem Leben, zu mir selbst.
Überraschenderweise überrascht mich das nicht.
Eigentlich ist das immer so.
Vielleicht, weil ich weiß, wie es endet.
Meistens sterben wir.
Es ist einfach, über den Dingen zu stehen, wenn man das begriffen hat.



Freitag, 24. August 2012
#15
Er darf nicht einschlafen, sagst du, und ich frage mich, woher du das weißt.
Ich weiß nicht, was passiert, wenn er einschläft, sagst du, und legst ihm das nasse Handtuch in den Nacken.
Hilflos beobachte ich deine Hilflosigkeit.

Wie weit sie weg sind, die anderen.
Wir gehen hier, in der Dunkelheit, barfuß auf heißem Asphalt.
Wenn dein Grinsen wieder schmetterlingshaft zu mir herüber flattert, vergesse ich alles.

Er regt sich nicht.
Ich ohrfeige ihn, doch er murmelt nur ihren Namen.
Da hält Toni seine Hand, als ob das ganz einfach wäre.

Es scheint, als sei es unser Leben, in dem wir baden.
„Ich vertraue dir“, sage ich und es fällt mir so leicht, dir dabei in die Augen zu sehen.

Du stehst in der Dämmerung und raufst dir die Haare.
Sein graues T-Shirt gleicht der Landkarte einer fremden Welt.
Stoffel stirbt und plötzlich habe ich Angst, dass das wirklich so ist.

Auf deine Art sagst du, dass du uns magst.
Vielleicht sehe nur ich das, aber du kannst das Licht brechen.
Als verneige sich die Welt vor dir.

Da ist Stoffel wieder.
Toni schiebt den Eimer zitternd in seine Richtung.
Flora presst die Hände vors Gesicht und schluchzt.
Enttäuschung.
Ich drehe mich weg.

Dein Fuß der mich anstupst, wie zufällig.
Aber ganz sicher nicht zufällig, das wissen wir beide.

Furchtbare Laute aus seiner Kehle.
Ich denke, dass das zu viel ist, dass wir das nicht können.
Wir sind doch noch Kinder.
Ich weine, das heißt, jetzt weinen wir alle.
Außer dir.

„Ich will nur noch schlafen“, sagst du. „Ich habe solche Kopfschmerzen.“
Ich spüre deinen Ellbogen nur Zentimeter neben mir.

Ihm passiert nichts, sagst du leise, siehst mich an.
Dann sind da plötzlich deine Arme.
Und mein Gesicht in deiner Halsbeuge.
So unerwartet vertraut.
Ich falle und lasse es zu.
Ich falle in dich hinein, so ernst und ehrlich.
Du hältst mich bloß fest in den Armen.
Lässt nicht los.

Ob meine Zähne dir weh tun, frage ich mich.
Du bist mein Fels in der Brandung.
Du bist da.
Ich bin zuhause.

Bis es vorbei ist.
Bis ihr ihn nach Hause getragen habt, kurz vor Sonnenaufgang.
Ihm passiert nichts, sagst du und ich beginne, dir zu glauben.

„Ohne ihn hätten wir das nicht geschafft“, sagen Toni und Flora.

Ein neuer Morgen.
Stoffel lacht.
Du nicht, du hast Kopfschmerzen.

„Danke“, sage ich.
„Kein Problem“, sagst du, und vielleicht ist es das Ehrlichste, was ich je von dir gehört habe.



Donnerstag, 23. August 2012
#14
Die plötzliche Angst vor all dem, was über dir ist. Wenn man in den Himmel sieht und denkt, scheiße, da ist soviel Luft über mir. Und dann die plötzliche Panik, von diesen Luftmassen erdrückt zu werden.
Sowieso wieder keiner, der dass jetzt verstehen würde.
Luftmassen, Erdrücktwerden, was für ein alberner Gedanke aber auch!
Ach was, ihr Lügner, kein Gedanke, ein Gefühl, das einzige was zählt.



Mittwoch, 8. August 2012
#13
Sie ist fünfzehn und lässt sich ein Tattoo stechen. Ihre Freunde finden das im Sekunkentakt ganz toll, ich sitze derweil kopfschüttelnd-zweifelnd vorm blau-weiß flimmernden Desktop.
Vielleicht bin ich auch voreingenommen; ich stand noch nie so richtig auf falsch geschriebene chinesische Schriftzeichen auf kalkigen Schulterblättern.
Ein Tattoo mit Tiefgang, bittesehr.
Sich aber einfach nur wahlweise die Worte Kraft, Liebe oder Leben in einer exotisch anmutenden Sprache, die man in Wirklichkeit nie lernen wird, weil man es gar nicht will, unter die Haut kratzen zu lassen, so wie all die vor Intelligenzlosigkeit strotzenden Frauentausch-Mamis, also das ist bei mir nicht gerade Zeichen für Originalität.
Aber sie ist so eine. Eine, die meine nicht-existenten Vorurteile täglich bestätigt.
Ihre Liebschaft mit einem gewissen J. und ihr unsägliches Leid nach Beendigung eben jener, konnten live mitverfolgt werden. Vorzugsweise copyundpastet sie auch heute noch tiefsinnig-oberflächliche Mutmach-Traurigkeiten.
Sie propagiert unnötigerweise ständig eine Art skurilen Neo-Feminismus, während sie einen Satz weiter ihre freiwillige und vergötternde Abhängigkeit vom männlichen Geschlecht lobpreist.
Ihre Freundinnen sind insgeheim ganz neidisch auf das stupide Geschwafel und würdigen es mit zahlreichen Kusssmileys. Sie verbeugt sich danach ausholend, indem sie noch ein Bild von ihrem neuen Tattoo hochlädt.
So funktioniert das heute.
Ich kann die Gänse schnattern hören.
Wenn ich es recht bedenke, so ein Schriftzeichen-Tattoo würde doch ganz gut zu ihr passen.



Samstag, 4. August 2012
#12
Sommerimpressionen:
In fünfzig Jahren kehre ich zurück. Wieder durch die Maisfelder schleichen, juckende Haut, den rauen Wind der Heimat im Gesicht.
Dann werde ich mich an alles erinnern.
Klappernde Schutzbleche. Betrunkene Bekenntnisse zwischen warmen Backsteinmauern, wenn nur die Katzen noch wach waren. Bilder im Schnee. Metall und Erde auf unserer Haut. Da war immer so viel Musik. Offene Fenster. Bananenflanken. Abende zwischen Trübsinn und Wahnsinn, Abende in der Gummizelle der eigenen Wahrnehmung. Jemand, der mich getragen hat, durchs Wasser. Zwei Fäuste, die sich aneinander rieben. Wehendes Haar, bilderbuchblond. Vergrabene Schatzkisten. Mädchenlachen und das Geräusch, das Bobbycars auf Kopfsteinpflaster machten. Ein riesiger herbstroter Baum vor dem Fenster. Dunkelheit und sehnendes Schweigen unter Straßenlaternen.
Ich werde mich an alles erinnern.
Der Anfang vom ewigen Ende.
Es war der letzte Sommer und jeder unserer Träume war ein Lied.



Mittwoch, 1. August 2012
#11
Gestern kurzfristig gelangweilt in einer Sitzung, in der es um Geld, Grundsätze und Bier ging. Hauptsächlich um Bier.
Zwischendurch mehr oder weniger heimliche Lachanfälle mit dem Einser über die Lächerlichkeit der Erwachsenen, wohl wissend, dass wir zu ihnen gezählt werden. Was wiederum lächerlich ist, denn, wer kann das wissen?
Heute Zug gefahren, am Bahnhof einen waschechten Hipster gesehen. Lächerlich lässig an sein Fahrrad gelehnt. Er trug rote Kniestrümpfe.
Bald wieder schlafen gehen, vielleicht ein bisschen lachen oder weinen, alleine im Dunkeln, je nach dem.
Die Nächte vermissen, in denen man denkt, dass es okay wäre zu sterben, diese Nacht. Dann wahrscheinlich wirklich weinen.
Vielleicht aber auch nur einschlafen, und Angst davor haben von der schwarzen, schwarzen Nacht gefressen zu werden.
Lächerlich sowas.



Freitag, 27. Juli 2012
#10
Sommerimpressionen.
Mehr als 120 gibt sie nicht mehr her, die alte Karre, aber als Sauna taugt sie noch ganz gut. In ihrem Inneren: vier mal gebündeltes Testosteron und ich. Simba und Zorro beatboxend neben mir, der Einser als Navigator auf dem Beifahrersitz und Johnny The Lonesome Cowboy (der Einfachheit halber ab hier nur noch "Cowboy") mit dem Lenkrad in den Händen.
So rumpeln wir bei gefühlten 45 Grad über die Autobahn. Unter uns knallt, ächzt und quietscht es, vom satten Sound eines Ferraris ist der Wagen weit entfernt. Damit wir trotzdem das Gefühl haben, in einem Formel-1-Auto zu sitzen, brummen wir einfach lautstark mit, und heulen schrill auf, wenn wir so tun, als würden wir beschleunigen.
Mitten in der Prärie endet die Autobahn, wir biegen ab auf eine Landstraße. Unser menschliches Navi versagt ein paar Mal, der Cowboy darf das Wenden üben. Erneutes Anfahren im dritten Gang, wir werden rechts von einem Mofa überholt, ansonsten keine besonderen Vorkommnisse.
Nach einer jahrelangen halben Stunde parken wir die feuerrote Schrottkarre mitten in der Sonne. Die Bikinimädchen sieht man schon von weitem. Beschwerliche zwanzig Minuten Fußweg später werfen auch wir uns in die Fluten. Simba, Zorro und der Einser schwimmen raus, bis sie vor Sonnenlicht nicht mehr zu sehen sind. Der Cowboy pflückt mir ein paar Algen. Was für ein lustiger Zufall, denke ich, in meinem Horoskop stand
letztens, Wasserpflanzen würden mich entzücken. Ich stehe also da und schau aufs Wasser und die tätowierte Frau, die sich ins Bild geschlichen hat, und versuche entzückt auszusehen. Vielleicht ist Entzückung nur was für Mädchen, überlege ich, solche die rosarote Fellbommeln und Schleifchen an ihren Schuhen tragen. Ich tauche ab, dem Licht entgegen, die Kälte umschließt mich, gleitet in jede verstopfte Pore, und als ich auftauche, habe ich Tang zwischen den Zähnen und bin ehrlich entzückt.
Als wir heimfahren, schwitzen wir wieder.



Montag, 23. Juli 2012
#9
Bloß ein Brief an die große Liebe meiner großen Liebe, nichts weiter.
Seitenlang verlegene Worte, mitternächtliche Sätze auf grauem Papier.
Der Stift in zitternden Fingern, und große, hilflose Gefühle im Bauch.
Bei Bryan Adams den letzten Punkt gesetzt.
Endlich beendet, für genial befunden, trotz offensichtlicher Schwächen.
Tinte verschwendet für gesammelte Halbwahrheiten und Ausflüchte, reproduzierte Klischees.
Hohle Phrasen in Seidengewändern. Bekenntnisse auf Klotür-Niveau.
Gefaltet, eingetütet, nicht versendet.
Ab in die Holztruhe mit den Briefen an meine große Liebe, du Brief an die große Liebe meiner großen Liebe, du nichts weiter.
Wenn ich tot bin, kriegt ihr sie alle.



Donnerstag, 19. Juli 2012
#8
„Was jetzt kommt ist wichtig“, sage ich und habe das Gefühl, mir hört schon wieder keiner zu. Die neben mir, die beiden, verschlucken sich an Gummibärchen und Pepsi, weil sie so lachen müssen. Worüber? Das ist mir entfallen.
Die eine jammert über die Hitze und den langweiligen Film.
Die Geschichte ist Kult, höre ich mich fast sagen, dann aber doch nicht.
Am Ende habe ich Gänsehaut und sie Lust auf Pizza. Mein Schweigen fällt nicht mehr auf. Wenn ich nicht antworte, antworten sie sich kurzerhand selbst. Lästiges Gekicher, wie ein Schwarm Mücken schwirrt es durch den Raum. Es kribbelt auf der Haut und man will danach schlagen.
„Bist du müde?“ Nein, nicht wirklich, danke der Nachfrage.
„Nerven wir dich?“ Man ersetze ‚nerven‘ durch ‚enttäuschen‘ und schiebe das Wörtchen ‚manchmal‘ zwischen das Personalpronomen und das zitternd in der Luft hängende Fragezeichen. Ja, wäre meine simple Antwort. Denn sie haben die Szene nicht verstanden, in der der weißblonde Junge über dem Waschbecken gelehnt und geweint hat. Das kann man doch eigentlich erwarten, auch ohne angelesenes Vorwissen. Mit ein bisschen Feinfühligkeit, ein bisschen Empathievermögen, also bitte, so schwer ist das nicht. Das kann man nun wirklich erwarten.
Sie kitzeln sich, kugeln schreiend und spuckend übereinander. Die eine kratzt mich mit ihrem Zehennagel. Ein viel zu hohes Lachen teilt mein Trommelfell gefühlt in zwei Hälften. Die eine sitzt auf dem blanken Mädchenbauch der anderen und pikst mit ihrem Finger hinein. Immer wieder, zwanzig, dreißig, hundert Mal. „Lustig!“, schreit sie. Ihre Stimme schnellt drei Oktaven höher.
Pik, pik, pik. Sie grunzen und ersticken und grunzen. Pik, pik, pik.
Ich beschließe, ab heute nichts mehr zu erwarten.
Draco Malfoy würde wieder weinen.